LUCIO SILLA

Wolfgang A. Mozart

Libretto: Giovanni de Gamerra, redigiert von Metastasio

Uraufführung: 26. Dezember 1772 in Mailand, Teatro Regio Ducal.

Lucio Silla, Diktator (Tenor) – Giunia, Tochter des C. Marius, Sillas Gegner im Bürgerkrieg, Verlobte des Cecilio (Sopran) – Cecilio, Senator in Acht und Bann (Sopran) – Lucio Cinna, heimlicher Gegner Sillas (Sopran) – Celia, Schwester Sillas (Sopran) – Aufidio, Vertrauter Sillas (Tenor)

Der tyrannische Machthaber Lucio Silla hat den verbannten Senator Cecilio für tot erklären lassen, um dessen Verlobte Giunia heiraten zu können. Doch Giunia weist den Diktator, der sie mit Gewalt zur Frau nehmen will, als Mörder ihres Vaters zurück. Sie will Cecilio die Treue wahren, der aus der Verbannung heimlich zurückkehrt.

Am Grabe von Giunias Vater kommt es zum glücklichen Wiedersehen der Liebenden. Aufidio, Sillas Ratgeber, stachelt den Ehrgeiz des Diktators an. Obwohl er bereits von Selbstzweifeln geplagt wird, soll Silla Giunia öffentlich zu seiner Gemahlin erklären.

Cinna, der Geliebte von Sillas Schwester Celia, versucht, den wutschnaubenden Cecilio davon abzuhalten, einen Mordanschlag auf den Diktator zu verüben. Giunia, so suggeriert Cinna, wäre geeigneter für dieses Attentat, denn sie könne sich Silla zum Schein vermählen lassen, um ihn dann im Ehebett zu töten.

Doch Giunia schreckt vor der Tat zurück, obwohl Silla sie mit Drohungen weiter in die Enge treibt. Cecilio dringt mit gezogenem Schwert in die Sitzung des Senats, bei der Silla sich zum Gemahl der Giunia erklären will. Die Wachen legen Cecilio in Ketten. Im Kerker nehmen Cecilio und Giunia voneinander Abschied.

Doch die Selbstzweifel des Diktators siegen über die Willkür: Silla verkündet eine Amnestie, stimmt der Hochzeit Cecilios und Giunias zu. Unter dem Jubel des Volkes beendet er die Zeit seiner Gewaltherrschaft.

Hintergründe

Weit hergeholt ist diese Handlung übrigens keineswegs.
Zwar gehen die Librettisten frei mit den Begebenheiten der römischen Geschichte um. Doch hat der historische Sulla tatsächlich seiner blutrünstigen Herrschaft entsagt, im Jahr 79 v. Chr. seinen Titel Diktator zurückgelegt.
Er starb ein Jahr darauf, zurückgezogen vom öffentlichen Leben.

Nur einmal noch erteilt das Mailänder Teatro Regio Ducal dem jungen Mozart einen Opernauftrag.
„Mitridate“ war ein Erfolg. Schon im Jahr darauf sticht der komponierende Teenager noch einmal alle älteren, erfahrenen Kollegen aus. Bereits auf der Rückfahrt von der Italienreise im März 1771 erhält Leopold Mozart die Nachricht von dem ehrenden Kompositionsauftrag für die Karnevalssaison 1773.

„Herr Amadeus Mozart hat zugestimmt“, heißt es im Kontrakt, „das erste Drama in Musik zu setzen, das in diesem Teatro Regio Ducal von Mailand im Karneval 1773 aufgeführt werden wird, und es werden ihm als Honorar für seine musikalischen Bemühungen einhundertdreißig Gulden, in Zahlen 130 g., sowie möblierte Unterkunft angewiesen. Bedingung ist, daß der ebengenannte Maestro alle Rezitative bis einschließlich Oktober 1772 in Musik setzen und sich zu Anfang des darauffolgenden Monats November in Mailand einfinden muß, um die Arien zu komponieren und den für die Oper notwendigen Proben beizuwohnen.“

Es ist viel darüber spekuliert worden, ob der Wiener Hof in dieser Causa Druck gemacht haben könnte, um erneut dem Salzburger vor den Italienern den Vorzug zu geben. Erzherzog Ferdinand ist ein erklärter Freund des jungen Komponisten.
Für seine Hochzeit mit der Prinzessin Maria Beatrice Riccarda d’Este im Oktober 1771 ergeht ausdrücklich ein Auftrag an Mozart, die für diesen Anlaß vorgesehene festliche „Serenata teatrale“ („Ascanio in Alba“) zu schreiben. Doch rät Kaiserin Maria Theresia ihrem Sohn ausdrücklich davon ab, Mozart zu seinem Hofkomponisten in Mailand zu ernennen. „Sie erbitten von mir“, schreibt die Kaiserin am 12. Dezember 1771 an ihren Sohn, „daß Sie den jungen Salzburger in Ihren Dienst nehmen dürfen. Ich weiß nicht, als was, da ich nicht glaube, daß Sie einen Komponisten oder unnütze Leute nötig haben.“

Unnötig zu sagen, daß der Erzherzog sich fügte. Der Auftrag für „Lucio Silla“ wird jedoch erteilt. Danach aber sind aus Mailand nie wieder Einladungen an Mozart erfolgt.

In die Arbeit am „Lucio Silla“ stürzt sich der Komponist, der sich zu diesem Zeitpunkt noch eine Zukunft in Mailand erwarten darf, ab November 1772 mit Feuereifer.

Die Zeichen stehen auf Erfolg, denn das Mailänder Opernensemble und nicht zuletzt das europaweit berühmte Orchester sind exzellent. Mit Anna de Amicis-Buonsolazzi, der Darstellerin der Giunia, und dem Kastraten Venanzio Rauzzini (Cecilio) stehen Superstars der damaligen Opernszene zur Verfügung.

Und Mozart versteht sich mit den als exzentrisch verrufenen Diven glänzend, verhilft ihnen zu einer fordernden Grundlage für einen Sängerwettstreit der Sonderklasse: Beide singen vier virtuose Arien. Für Rauzzini, dessen Koloraturgewandtheit stupend ist, komponiert Mozart in jener Zeit überdies die Motette „Exsultate, jubilate“, KV 165.

Nur für den Titelhelden muß er zaubern. Denn der vorgesehene Arcangelo Cortoni sagt kranhkheitshalber ab. Eine Hiobsbotschaft, denn Cortoni wäre der dritte im Bunde der Weltstars in dieser Produktion.

Auch für ihn hat Librettist Giovanni de Gamerra vier Bravourarien vorgesehen – nach seiner Genesung wird Cortoni in Mailand in Paesiellos „Andromeda“ gar fünf Arien singen! Diesmal aber springt ein Kirchensänger aus Lodi ein: Bassano Morgnoni, der kaum je auf einer Bühne gestanden ist, muß in ein glänzendes, theatererfahrenes Ensemble eingegliedert werden. So kommt es, daß dem Herrscher in diesem Werk nur zwei Soloszenen zugedacht sind, deren zweite, die C-Dur-Arie im Gefolge der Auseinandersetzung mit Giunia, zeigt den Diktator aufgewühlt und in verwirrtem Furioso: Die Geliebte, die ihm ihre Verachtung offenbart hat, will er sterben sehen; und doch entlarvt in ihm die Zuneigung zu der geliebten Frau das Verbrechen, das er zu begehen im Begriff ist.

Mozart entspricht der ungewöhnlichen psychologischen Situation mit einer Arie, auf die sich keines der üblichen Formschemata anwenden läßt.

Hier darf natürlicherweise nichts wiederholt werden, weil die seelische Entwicklung, die in Silla stattfindet, keine unveränderte Wiederaufnahme von Vergangenem rechtfertigen würde.
vDas trennt diese Nummer von der Gemütsaufwallung des Cecilio, die ihn kurz zuvor (Nr. 9) Rache schwören läßt. Silla, in ähnlicher Erregung, beginnt mit vergleichbarem musikalischen Furor, doch bringt die Ratlosigkeit angesichts der unerklärlichen Seelenregungen das rasende Allegro assai zum Stillstand, die Musik stockt, mündet in ein Rezitativ, ehe sie wieder Kraft schöpft und sich zur energischen Schlußgeste durchringt. Keine Da-capo-Arie also, auch keine „Sonatenform“ mit Reprise des ersten Teils.

Beide Möglichkeiten finden sich in „Lucio Silla“ auch. Hier aber – wie auch in zwei weiteren Nummern der Partitur – komponiert Mozart den Text ohne musikalische Rekapitulationen durch, setzt einzelne Abschnitte unvermittelt voneinander ab, je nachdem, wie sich inhaltliche Zäsuren durch den Text ergeben. Faszinierend auch, wie der Komponist althergebrachte Vorbilder transzendiert, nicht zuletzt durch die Ausdehnung der einzelnen Formmuster.

Keine Oper in jenen Jahren enthält dermaßen lange, schwierige Arien wie „Lucio Silla“. Überdies experimentiert Mozart auch wieder mit der orchestralen Farbgebung, mischt vor allem die Bläser-Couleurs immer wieder neu, setzt etwa die Fagotte erstaunlich solistisch und instrumentiert die typische „Ombra“Szene (eine Totenbeschwörung) der Giunia im dritten Akt mit parallel geführten Flöten und (verdoppelten) Bratschen, um im Verein mit den mit Dämpfern spielenden Violinen und den Pizzicato-Bässen eine besonders dunkle, geheimnisvolle Atmosphäre heraufzubeschwören.

Ein raffinierter dramaturgischer Kontrast zum vorausgehenden, bewegend schlichten Liebeslied des Cecilio, „Pupille amate“.

So ist die neue Mailänder Partitur vielleicht sogar zu gewagt und zuweilen allzu düster gefärbt, als daß sich der Herzog entschließen könnte, dem von seiner Mutter so abschätzig beurteilten Salzburger Komponisten noch einmal in sein Teatro Regio zu bitten.

↑DA CAPO